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»Es geht dar­um, wahr­lich revo­lu­tio­när zu bleiben«

By Publis­hed On: Sep­tem­ber 22, 2022Cate­go­ries: Debat­te, Eman­zi­pa­ti­on

Ein Gespräch mit Gey­dis Fun­do­ra. Über neue Her­aus­for­de­run­gen für die kuba­ni­sche Gesell­schaft und ihre Anstren­gun­gen, Ungleich­hei­ten zu überwinden. 

jun­ge Welt, 10.08.2019

Sie sind Sozio­lo­gin an der Uni­ver­si­tät von Havan­na und unter­su­chen dort den The­men­kom­plex Ungleich­hei­ten. Wel­che Rol­le spielt die Uni­ver­si­tät in der kuba­ni­schen Gesellschaft?

Ich arbei­te vor allem zu den The­men Sozi­al­po­li­tik und sozia­le Ungleich­hei­ten, ins­be­son­de­re zu Ungleich­hei­ten auf­grund von Geschlecht, »Ras­se«, Behin­de­rung oder Alter. In Kuba ori­en­tiert sich die Uni­ver­si­tät an den Bedürf­nis­sen der Gesell­schaft, das heißt, es geht nicht nur dar­um, Wis­sen für die Insti­tu­ti­on zu gene­rie­ren. Die his­to­ri­sche Funk­ti­on der kuba­ni­schen Uni­ver­si­tät besteht dar­in, an dem teil­zu­neh­men, was die kuba­ni­sche Gesell­schaft bewegt. Unse­re For­schungs­agen­da ent­wi­ckelt sich also dar­aus, was das poli­ti­sche und sozia­le Pro­jekt Kubas benötigt.

Und was sind das zur Zeit für Themen?

Das sind vie­le. Beson­ders wich­tig ist die Ent­wick­lung des klei­nen pri­va­ten Sek­tors. Hier grei­fen wir die Debat­te über Klas­sen­un­ter­schie­de wie­der auf, aller­dings unter einem ande­ren Blick­win­kel: Wie kön­nen wir errei­chen, dass das kuba­ni­sche Pro­jekt – statt sozia­le Ungleich­hei­ten zu för­dern – zu mehr Gerech­tig­keit führt? Außer­dem gibt es Debat­ten, nicht nur zum Kampf für Frau­en­rech­te – wo die kuba­ni­sche Revo­lu­ti­on gro­ße Fort­schrit­te erreicht hat –, son­dern auch zum sozia­lis­ti­schen Femi­nis­mus und dem schwar­zen Femi­nis­mus aus Latein­ame­ri­ka und der Kari­bik. Wir ver­su­chen stän­dig, das kol­lek­ti­ve Wis­sen, das in den ver­schie­de­nen sozia­len Räu­men exis­tiert, zu nut­zen, um die Poli­tik zu ergän­zen. Es geht uns dar­um, einen Dia­log zwi­schen den loka­len Gemein­de­pro­jek­ten und der Lan­des­po­li­tik zu eröffnen.

Seit der sozia­lis­ti­schen Revo­lu­ti­on hat sich Kuba im inter­na­tio­na­len Ver­gleich zu einem Land ent­wi­ckelt, in dem der gesell­schaft­li­che Reich­tum beson­ders gerecht ver­teilt ist. Was für Ungleich­hei­ten gibt es denn heu­te noch?

Ich den­ke, Kuba ist ein sehr aty­pi­scher Kon­text, wes­halb es sehr span­nend ist, gera­de dort Sozio­lo­gie zu betrei­ben. Die Fra­ge, die mich dabei umtreibt, ist: Wie ver­hält sich das, was in Kuba pas­siert, zum Rest der Welt? Vie­le der Lösungs­vor­schlä­ge für die Pro­ble­me, die in ande­ren Län­dern dis­ku­tiert wer­den, sind in Kuba schon lan­ge in die Pra­xis umge­setzt wor­den – mit unter­schied­li­chen Ergeb­nis­sen. Seit lan­ger Zeit ver­sucht Kuba, die »geerb­ten« Pro­ble­me zu lösen, sei­en es sol­che aus der Zeit des Kolo­nia­lis­mus, des peri­phe­ren Kapi­ta­lis­mus oder des Patri­ar­chats. Die kuba­ni­sche Revo­lu­ti­on hat damit begon­nen, eine Rei­he von Din­gen anzu­ge­hen, die aber lei­der nicht alle immer auch die Resul­ta­te nach sich gezo­gen haben, die man sich gewünscht hat­te. Aber zum Glück besitzt das kuba­ni­sche Pro­jekt die Fähig­keit, stän­dig kri­tisch über sich selbst zu reflek­tie­ren, um wei­ter zu lernen.

Was mei­nen Sie genau, wenn Sie sagen, die von der kuba­ni­schen Revo­lu­ti­on vor­an­ge­trie­be­nen Pro­jek­te hät­ten nicht immer die gewünsch­ten Resul­ta­te mit sich gebracht?

Heu­te kom­men ande­re Staa­ten mit der Idee, gro­ße Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen zu grün­den. In Kuba exis­tiert eine sol­che schon seit den 60er Jah­ren. Wenn Frau­en die Mehr­heit in den Par­la­men­ten und in den Uni­ver­si­tä­ten stel­len, dann ist es sehr wahr­schein­lich, dass die Ungleich­hei­ten auf­grund des Geschlechts zurück­ge­hen und die Ver­hält­nis­se weni­ger patri­ar­cha­lisch wer­den. Kuba hat es geschafft, ein sehr »weib­li­ches« Par­la­ment zu bekom­men. Wir haben die »Geschlech­ter­ge­walt«, also die Gewalt gegen Men­schen – vor­ran­gig Frau­en – nur auf­grund ihres Geschlechts, laut ver­schie­de­nen Sta­tis­ti­ken zurück­ge­drängt. Wir sehen all das, aber trotz­dem exis­tie­ren wei­ter­hin vie­le patri­ar­cha­le Struk­tu­ren, zum Bei­spiel in Kul­tur und Sprache.

Die letz­te Umfra­ge zu Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit hat erge­ben, dass sich Frau­en einer­seits sehr ermäch­tigt füh­len und wich­ti­ge poli­ti­sche und wis­sen­schaft­li­che Posi­tio­nen beset­zen. Ande­rer­seits aber arbei­ten sie immer noch 14 Stun­den pro Woche mehr im Haus­halt als Män­ner, sind immer noch Gewalt auf­grund ihres Geschlechts aus­ge­setzt – viel­leicht nicht in so hohem Maße wie in ande­ren Län­dern –, und es exis­tie­ren auch wei­ter­hin Vor­ur­tei­le über Geschlech­ter­rol­len. Was müs­sen wir also noch tun, um die­se Pro­ble­me zu lösen? Klas­sisch ist der Ansatz, mehr Arbeits­plät­ze für Frau­en zu schaf­fen, aber das ändert erst ein­mal nichts an der sexis­ti­schen Arbeits­tei­lung, und es führt auch nicht dazu, dass mehr Män­ner in den typi­scher­wei­se als weib­lich wahr­ge­nom­me­nen Berei­chen arbei­ten. Wie kön­nen wir das also angehen?

Sie haben auch vom kolo­nia­len Erbe gespro­chen. Gibt es denn in Kuba wei­ter­hin Rassismus?

Im Fall von Ras­sis­mus pas­siert etwas sehr ähn­li­ches. In der Gesetz­ge­bung sind wir schon weit vor­an­ge­schrit­ten, in der Inte­gra­ti­ons­po­li­tik genau­so, eben­so in der Aner­ken­nung der ver­schie­de­nen Kul­tu­ren von den Antil­len, aus den kari­bi­schen und afri­ka­ni­schen Län­dern – und das ist super! Beim The­ma des Hoch­schul­zu­gangs sind wir auch schon sehr weit gekom­men. Und trotz­dem gibt es immer noch ras­sis­ti­sche Vor­ur­tei­le, die wir noch nicht über­win­den konn­ten. Wo sind also die Her­aus­for­de­run­gen? Ich glau­be, in die­sem Sin­ne sind wir so etwas wie ein sozia­les Labor, von dem man noch sehr viel dar­über ler­nen kann, wie effek­ti­ve Maß­nah­men in einer Gesell­schaft zur Über­win­dung die­ser Pro­ble­me aus­se­hen kön­nen. Es gibt The­men, deren Bear­bei­tung sehr kom­pli­ziert ist, weil es bei uns Genera­tio­nen gibt, die Jah­re ihres Lebens dafür geop­fert haben, genau die­se Phä­no­me­ne zu bekämp­fen. Die sind teil­wei­se der Mei­nung, die insti­tu­tio­nel­len und bil­dungs­po­li­ti­schen Maß­nah­men hät­ten schon zu den gewünsch­ten Ver­än­de­run­gen geführt. Und ja, wenn wir uns die ent­spre­chen­den Sta­tis­ti­ken anse­hen, wird deut­lich, dass sie posi­ti­ve Effek­te hat­ten. Wenn wir aber ande­re Metho­den in der For­schung anwen­den, wird deut­lich, dass die­se Ele­men­te immer noch vor­han­den sind.

Auf wel­che Ele­men­te bezie­hen Sie sich genau?

Schau­en wir uns zum Bei­spiel die Arbei­ten zu städ­ti­scher Armut an: In Kuba lebt nie­mand in extre­mer Armut, das heißt grund­le­gen­de Bedürf­nis­se wie Zugang zu Bil­dung, zum Gesund­heits­we­sen, sozia­le und kul­tu­rel­le Teil­ha­be sind gestillt. Aller­dings liegt das Ein­kom­men unter­halb des Vor­ge­se­he­nen. Das heißt, es gibt Men­schen, die sozia­le Unter­stüt­zung benö­ti­gen, und an der Spit­ze die­ser Grup­pe ste­hen Frau­en, oft schwar­ze und »mes­ti­zi­sche« Frau­en. Hier stel­len wir uns die Fra­ge: Wie kommt es, dass die­se Ungleich­hei­ten sich wei­ter­hin repro­du­zie­ren? Was muss noch gesche­hen, um die­ses Pro­blem zu lösen? In die­ser Dis­kus­si­on befin­den wir uns, immer in dem Wis­sen, dass die Ant­wort auf die­se Fra­gen nicht allei­ne von der Uni­ver­si­tät kom­men kann, wes­halb wir auf die Stra­ße gehen und die Men­schen in den For­schungs­pro­zess ein­bin­den müssen.

Wir müs­sen uns fra­gen, was der sozia­lis­ti­sche Begriff von Gleich­heit eigent­lich bedeu­tet. Bis zu wel­chem Grad kann Gleich­heit oder Ungleich­heit legi­tim sein? In Kuba spre­chen wir vom Prin­zip der abso­lu­ten Gleich­heit, wenn wir vom Recht dar­auf spre­chen, Zugang zu einem guten Leben zu haben. Aber wir spre­chen auch vom Prin­zip der Soli­da­ri­tät, davon aus­ge­hend, dass es natür­lich Per­so­nen gibt, die nicht die glei­chen Mög­lich­kei­ten haben wie ande­re. Mitt­ler­wei­le haben wir in Kuba eine sehr hohe Lebens­er­war­tung. Natür­lich kann man von einer 80jährigen Per­son nicht ver­lan­gen, dass sie genau­so am Pro­duk­ti­ons­pro­zess teil­nimmt wie eine 20jährige. Es gibt also Leu­te, die unter­stützt wer­den müs­sen, obwohl sie nicht an der Schaf­fung des gesell­schaft­li­chen Reich­tums betei­ligt sind. Daher spre­chen wir vom Prin­zip der rela­ti­ven Gleichheit.

Was hat dazu geführt, dass sich der Dis­kurs über Gleich­heit in Kuba geän­dert hat?

Wir befin­den uns in Kuba nicht mehr in der Gesell­schaft der 80er Jah­re, als wir einen extrem nied­ri­gen Gini-Index (gibt den Grad der Ungleich­heit der Ein­kom­mens­ver­tei­lung an – je höher der Wert, des­to grö­ßer die Ungleich­heit, jW) hat­ten. Nach den Refor­men der 90er Jah­re befin­den wir uns in einer Peri­ode der sozia­lis­ti­schen Trans­for­ma­ti­on, in der pri­va­te Eigen­tums­ver­hält­nis­se neben dem Gemein­ei­gen­tum koexis­tie­ren. Das hat Aus­wir­kun­gen auf der Ebe­ne der Ver­tei­lung und der Teil­ha­be am Pro­duk­ti­ons­pro­zess, aber auch auf der Ebe­ne der Kon­sum­mög­lich­kei­ten. Wel­che Mecha­nis­men muss also eine Gesell­schaft heu­te anwen­den, um dafür zu sor­gen, dass die­se Ver­tei­lung so wenig unge­recht wie mög­lich ist? Es gibt eine Rei­he an Fak­to­ren, die der Staat kon­trol­lie­ren kann, aber gleich­zei­tig gibt es auch sol­che, auf die wir kei­nen Ein­fluss haben. All die­se Din­ge dis­ku­tie­ren wir aktu­ell in Kuba, denn es gab sowohl natio­nal als auch inter­na­tio­nal eine Rei­he von Ver­än­de­run­gen, die beein­flus­sen, wie wir unse­re Ver­tei­lungs­po­li­tik gestal­ten können.

Und was kann kon­kret für eine gerech­te Ver­tei­lung des gesell­schaft­li­chen Reich­tums getan werden?

Zum Bei­spiel wur­den Ende Juni eine Erhö­hung des Lohns der Staats­be­schäf­tig­ten und eine Auf­sto­ckung der Ren­ten beschlos­sen. Zudem wird über die Prei­se der Grund­nah­rungs­mit­tel dis­ku­tiert. Ein ande­res Bei­spiel: Seit 2008 wird eine Poli­tik ver­folgt, die für jun­ge Leu­te vom Land gedacht ist. Dabei geht es um die Ver­tei­lung von Land für die Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on. Lei­der haben wir im Lau­fe meh­re­rer Genera­tio­nen teil­wei­se ver­lernt, Land­wirt­schaft zu betrei­ben. Genau­so wie im Rest der Welt gab es auch in Kuba eine Wel­le der Urba­ni­sie­rung, das heißt, vie­le jun­ge Men­schen sind vom Land in die Städ­te gegan­gen, um Ärz­te oder Inge­nieu­re zu wer­den. Das war natür­lich auch Teil der Idee der kuba­ni­schen Revo­lu­ti­on, jedem das Recht zu geben, beruf­lich das zu machen, was man woll­te. Das hat aber eben auch dazu geführt, dass länd­li­che Gegen­den ent­völ­kert wur­den. Wäh­rend über die Ver­tei­lung der öffent­li­chen Gel­der frü­her zen­tral ent­schie­den wur­de, fin­det das heu­te loka­ler statt. Das erlaubt den loka­len Pro­jek­ten, sich viel direk­ter an der Ver­tei­lung des gesell­schaft­li­chen Eigen­tums zu beteiligen.

Ich glau­be, das ist eine der Grund­la­gen des kuba­ni­schen Sys­tems. Es geht nicht nur dar­um, dein Ein­kom­men oder dei­ne Kon­sum­mög­lich­kei­ten zu ver­bes­sern, son­dern, dich in ein ande­res Sub­jekt zu ver­wan­deln, ein Sub­jekt, das teil­hat an der Ver­wal­tung des Gesell­schafts­ei­gen­tums. Ein besit­zen­des Sub­jekt, aber eben nicht im Sin­ne des indi­vi­du­el­len Besit­zes, son­dern des gemein­schaft­li­chen. Es geht dar­um, uns nicht in refor­mis­ti­sche Per­so­nen zu ver­wan­deln, son­dern wahr­lich revo­lu­tio­när zu bleiben.

Sie haben von Lohn­un­gleich­hei­ten zwi­schen im Pri­vat­sek­tor und im öffent­li­chen Sek­tor ange­stell­ten Men­schen gespro­chen. Hat der pri­va­te Sek­tor auch Aus­wir­kun­gen auf ande­re Ungleich­hei­ten wie die auf­grund von Geschlecht oder ver­meint­li­cher »eth­ni­scher Herkunft«?

Ja, das ist sehr wich­tig. Der Pri­vat­sek­tor ist in Kuba im Moment Gegen­stand gro­ßer Debat­ten. Die Unter­neh­men suchen ihre Arbeits­kräf­te oft unter klar ras­sis­ti­schen und sexis­ti­schen Vor­zei­chen aus. Vor allem in der Gas­tro­no­mie wer­den in ers­ter Linie Frau­en gesucht, die im bes­ten Fall noch weiß und kin­der­los sind und »gut aus­se­hen«. Dage­gen hat sich, aus­ge­hend von der zuneh­men­den Nut­zung der »sozia­len Netz­wer­ke«, ein sozia­ler Akti­vis­mus ent­wi­ckelt. In der Fol­ge muss­ten eini­ge Unter­neh­men sogar schon ihre Ein­stel­lungs­po­li­tik ändern, da die Kam­pa­gnen zum Bei­spiel ihrem Ruf in den Rei­se­füh­rern gescha­det haben. Doch trotz die­ser Erfol­ge gibt es immer noch vie­le, die sol­che Kri­te­ri­en anwenden.

Ande­re Aus­drucks­for­men von Unge­rech­tig­kei­ten haben damit zu tun, wer die Eigen­tü­mer und wer die Ange­stell­ten im Pri­vat­sek­tor sind. Hier zei­gen Stu­di­en, dass ein Groß­teil der Eigen­tü­mer mit­tel­al­te, wei­ße Män­ner sind. Auch das Bild, das für das Mar­ke­ting die­ser Art von Geschäf­ten genutzt wird, ist alles ande­re als inklu­siv. Gera­de das ras­sis­ti­sche und sexis­ti­sche Bild der »Mulat­t­in« wird häu­fig genutzt, wobei der schwar­ze Kör­per zu einem sexu­el­len Objekt degra­diert wird.

Und die­se Art von Ras­sis­mus und Sexis­mus gibt es nur in der Privatwirtschaft?

Es gibt auch Stu­di­en, die sagen, dass die­se Art des Sexis­mus – nicht so sehr des Ras­sis­mus – auch im öffent­li­chen Sek­tor vor­han­den war. Aller­dings kann der öffent­li­che Sek­tor sehr viel bes­ser von den Arbei­te­rin­nen und Arbei­tern sowie über Geset­ze kon­trol­liert wer­den. Im Gegen­satz dazu gibt es im pri­va­ten Sek­tor Berei­che, die unsicht­bar blei­ben. 2011 wur­de auf der Kon­fe­renz der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Kubas inner­halb der stra­te­gi­schen Zie­le fest­ge­schrie­ben, dass der Anteil an Frau­en und Schwar­zen inner­halb der Unter­neh­mens­füh­run­gen der wich­tigs­ten Sek­to­ren Kubas erhöht wer­den soll. Im Zuge des­sen kam es in den Füh­rungs­ebe­nen zu einem Anstieg der Anzahl von jun­gen schwar­zen Frauen.

Sie haben davon gespro­chen, dass in Kuba heu­te viel mehr vom Loka­len her gedacht wird, auch in Bezug auf Ent­wick­lung. Beson­ders in Latein­ame­ri­ka wird der Ent­wick­lungs­ge­dan­ke in den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten heu­te mehr und mehr hin­ter­fragt – natür­lich vor allem im Sin­ne kapi­ta­lis­ti­scher Ent­wick­lung. Wie ist das im kuba­ni­schen Kon­text, wo Ent­wick­lung natur­ge­mäß eine ande­re Bedeu­tung hat, da es sich um eine sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft handelt?

Die inter­na­tio­na­len Medi­en malen fast immer das Bild von Kuba als einer homo­ge­nen Bla­se. Das ist jedoch kom­plett falsch, denn bei uns gibt es Debat­ten und Dis­kus­sio­nen, die teil­wei­se sehr hef­tig aus­ge­tra­gen wer­den. Dabei geht es um Fra­gen wie: Was pas­siert mit dem Was­ser, wenn wir Golf­plät­ze bau­en? Wie steht es um unse­re Umwelt, wenn wir wei­ter auf die­se Art von Tou­ris­mus set­zen, der so viel Was­ser ver­braucht? Die­se Debat­ten haben wir also auch bei uns.

Um Ihnen ein wei­te­res Bei­spiel zu nen­nen: In einem der Semi­na­re, das wir vor kur­zem durch­ge­führt haben, ging es um inno­va­ti­ve loka­le Land­wirt­schafts­mo­del­le, die das Ziel haben, die Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät vor­an­zu­brin­gen. Dabei haben wir mit den Stu­die­ren­den eine Übung gemacht, bei der sie die unter­schied­li­chen Vor­stel­lun­gen von Ent­wick­lung der in ihrem Umfeld leben­den Per­so­nen zusam­men­tra­gen soll­ten. Im Ergeb­nis konn­ten wir drei gro­ße Grup­pen aus­ma­chen: die vom klas­si­schen Ent­wick­lungs­ge­dan­ken Über­zeug­ten, die­je­ni­gen, die sich eine alter­na­ti­ve Ent­wick­lung wün­schen, und die, die eine Alter­na­ti­ve zur Ent­wick­lung wol­len. Die letz­te Grup­pe sind Men­schen, die den Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess nicht als Ent­wick­lung ver­ste­hen, da der Gedan­ke zu sehr auf die Wirt­schaft fokussiert.

Was bedeu­ten die­se teils wider­sprüch­li­chen Vor­stel­lun­gen, die in der kuba­ni­schen Gesell­schaft existieren?

Schau­en wir uns zum Bei­spiel die Fra­ge an, wel­che Art von Tou­ris­mus wir ent­wi­ckeln wol­len. Auf der einen Sei­te gibt es den Tou­ris­mus von »Son­ne und Strand« – und das ist ein wich­ti­ger Zweig, denn dabei kommt das Geld zusam­men, mit dem wir unser Essen kau­fen. Es muss garan­tiert wer­den, dass jeder Kuba­ner und jede Kuba­ne­rin drei­mal am Tag etwas zu Essen bekommt. Und es ist nun mal so, dass die Blo­cka­de bestimmt, wie­viel Geld der Regie­rung dafür zur Ver­fü­gung steht. Auf kur­ze Sicht ist der »Son­ne und Strand«-Tourismus einer der Sek­to­ren, die genau das garan­tie­ren. Auf der ande­ren Sei­te ver­sucht Kuba den Gesundheits‑, den Öko- und den Kul­tur­tou­ris­mus zu för­dern. Das sind Arten, die viel weni­ger »räu­be­risch« sind, als ande­re. Dafür ent­wi­ckeln Gemein­den zum Bei­spiel die »Tab­a­k­rou­te«, die »Kaf­fee­rou­te« oder die »Kakao­rou­te«, das heißt einen klei­ne­ren Tou­ris­mus, weni­ger inva­siv, in dem die Per­so­nen auch am Pro­duk­ti­ons­pro­zess teil­ha­ben kön­nen. Das führt dazu, dass die Leu­te ein ande­res Bild von Kuba mit nach Hau­se neh­men und auf eine ande­re Art partizipieren.

Es pas­siert also sehr viel in der kuba­ni­schen Gesellschaft …

Genau, Kuba ist ein extrem span­nen­der Fall. Der Staat ent­wi­ckelt eine Rei­he an poli­ti­schen und insti­tu­tio­nel­len Stra­te­gien, und die ein­zel­nen Sub­jek­te neh­men die­se Din­ge auf sehr unter­schied­li­che Wei­se auf und ver­än­dern ihr Ver­hal­ten – oder aber auch nicht. Ich als Sozio­lo­gin unter­su­che, was pas­siert, war­um die Maß­nah­men nicht kom­plett effek­tiv sind und was die nächs­ten Schrit­te sein müs­sen. Und die Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen sind offen. Ich mag es nicht, The­men zu »schlie­ßen«, denn ich möch­te in einer kuba­ni­schen Gesell­schaft leben, die sich in einem per­ma­nen­ten Zustand des Aus­pro­bie­rens befin­det. Wir befin­den uns in einer inter­na­tio­na­len Extrem­si­tua­ti­on. Die kuba­ni­sche Gesell­schaft erfin­det per­ma­nent Neu­es, schei­tert, beginnt wie­der von vorn und lernt aus den Fehlern.

Gey­dis Ele­na Fun­do­ra Nevot wur­de 1986 gebo­ren und arbei­tet als Sozio­lo­gin am Phi­lo­so­phi­schen und His­to­ri­schen Flac­­so-Insti­­tut der Uni­ver­si­tät von Havan­na. Dort forscht sie zu Gleich­stel­lungs­po­li­ti­ken, sozia­ler Ungleich­heit und der Ent­wick­lung Kubas und Lateinamerikas.

Inter­view: Fre­de­ric Schnatterer
jun­ge Welt, 10.08.2019