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Auswandern aus Kuba
Aus: Tageszeitung Junge Welt, 05.08.22 von Volker Hermsdorf. Vielfältige Krisen treffen Lateinamerika hart. Sozialistische Karibikinsel leidet besonders wegen US-Blockadepolitik. Kuba erlebt derzeit eine der schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krisen nach dem Sieg der von Fidel Castro angeführten Rebellenarmee am 1. Januar 1959. Neben der seit mehr als 60 Jahren von den USA verhängten Wirtschafts‑, Handels- und Finanzblockade treffen auch die globalen Auswirkungen der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine das Land hart. In mehreren Provinzen wurde die Stromversorgung rationiert und bis zu acht Stunden pro Tag abgeschaltet. In dieser Woche gibt es in den Haushalten der Hauptstadt zwischen zehn und 14 Uhr keinen Strom. Ende Juli traten zudem in mehreren Provinzen Tausende neue Fälle des durch Stechmücken übertragenen Denguefiebers auf, die das Gesundheitssystem zusätzlich belasten. Wie in anderen Ländern leidet auch die kubanische Bevölkerung unter steigenden Kraftstoff — und Transportkosten, hoher Inflation und dem rasanten Anstieg der Nahrungsmittelpreise. Auf der Insel sind die Folgen wegen der US- Blockade allerdings noch dramatischer. Immer mehr und vor allem jüngere Kubanerinnen und Kubaner hoffen, der multiplen Krisenlage entgehen zu können, indem sie ihr Land verlassen.Obwohl die meisten Staaten der Region derzeit eine zunehmende Auswanderung verzeichnen, stellen westliche Medien die Situation Kubas besonders heraus. So bezeichnete tagesschau.de die vermehrten Ausreisen in einem Beitrag am Sonntag als »Exodus«, weil »ein Jahr nach den historischen Protesten Zehntausende das Land« verlassen. »No Future in Havanna« lautete vier Tage zuvor auch eine Überschrift in der Tageszeitung ND. In Kuba, so die Botschaft, sind immer mehr Menschen verzweifelt und hoffnungslos. Vor allem Junge würden »keine Perspektive« mehr in einem Land sehen, das tagesschau.de als »Insel der Traurigkeit« beschrieb. Inflation, Energiekrise und Auswanderung seien typisch kubanische Probleme, wird so suggeriert. Die in der Tat zunehmende Migration wird weder als Teil einer in ganz Lateinamerika festzustellenden Entwicklung noch im Zusammenhang mit Anreizen und Privilegien beschrieben, die ausschließlich für kubanische Migranten gelten. »Jedes Jahr migrieren allein aus Mittelamerika rund 200.000 Menschen in die USA, in den letzten 30 Jahren waren es mehr als 16 Millionen«, konstatierte Carlos Mauricio Ferolla vom »Instituto Tricontinental de Investigaciones Sociales« am 26. April. In seinem Beitrag für die Webseite Agencia Latinoamericana de Información schätzte er, dass jeden Monat allein aus Guatemala, El Salvador und Honduras zwischen 5.000 und 8.000 Menschen auswandern. »Die meisten von ihnen tun dies nicht auf der Suche nach dem amerikanischen Traum, sondern auf der Flucht vor dem Alptraum, den sie in ihren eigenen Ländern erleben«, beschrieb er die Motivation der Migranten. Mit der Coronapandemie nahmen die Zahlen auch aus anderen Teilen Lateinamerikas weiter zu. Im Juli 2021 hätten US-Grenzschutzbeamte mehr als 210.000 »illegale Einwanderungsversuche« registriert, schrieb der US- Thinktank »Washington Office on Latin America« (WOLA) am 12. August des Jahres, so viele wie seit 2000 nicht mehr. Ende 2021 kamen laut der UN-Flüchtlingshilfe »20 Prozent der weltweit geflüchteten und vertriebenen 89,3 Millionen Menschen aus Latein- und Mittelamerika«. Nur ein kleiner Teil davon stammt aus Kuba. Nach Angaben der US-Behörden sind seit Herbst vergangenen Jahres rund 140.000 Kubaner über die mexikanische Grenze »irregulär« eingereist. Im Gegensatz zu anderen Migranten genießen kubanische Staatsbürger – auch nach illegalisiertem |
Grenzübertritt – in den USA Privilegien. Nach dem »Cuban Adjustement Act« erhalten sie Asyl, nach einem Jahr und einem Tag ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht und bis dahin staatliche Sozialhilfe. Seit Kubaner nicht mehr – wie früher – ihr Wohneigentum verlieren, wenn sie in die USA auswandern, gehen manche mit der Überlegung, zumindest zeitweise auch weiter in ihrer Heimat leben zu können. Die Furcht, bei einer eventuellen Wiederwahl Donald Trumps in zwei Jahren die derzeitigen Privilegien zu verlieren, treibt Ausreisewillige jetzt zur Eile. Angehörige und Freunde bestärken sie, oft in der Hoffnung, später von den »Remesas« (Rücküberweisungen) der Migranten zu profitieren. Doch auch das gilt nicht nur für Kuba. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden allein im Jahr 2021 rund 54 Milliarden US-Dollar »Remesas« nach Mexiko überwiesen und übertreffen damit andere Deviseneinnahmen des Landes. Nur für Kuba hatte Washington diese Möglichkeit eingeschränkt. Erst im Mai hob US-Präsident Joseph Biden eine bis dahin geltende Obergrenze für Rücküberweisungen nach Kuba wieder auf.
Die derzeitige Krise in der Inselrepublik ist nur zu einem kleinen Teil die Folge »hausgemachter« Probleme. Da die Handlungsoptionen der Regierung beschränkt sind, kann sie auf viele Herausforderungen nur reagieren und versuchen, deren negative Auswirkungen zu minimieren. Während die Folgen der Pandemie, des Ukraine- Krieges und der westlichen Sanktionen gegen Russland sich auf alle Regionen der Welt auswirken, leidet Kuba nicht nur unter der Blockade, sondern auch unter den ständigen Versuchen der USA, das Land zu destabilisieren. Selbst der erste schwere Ausbruch des Denguefiebers war 1981 durch ein Virus verursacht worden, das exilkubanische Attentäter im Auftrag der CIA an verschiedenen Orten der Insel freigesetzt hatten.
»Wir haben nicht die Macht, die imperiale Logik zu ändern«, erklärte Präsident Miguel Díaz-Canel am 22. Juli in der Nationalversammlung. Deshalb erwarte er, dass die USA nach dem gescheiterten Versuch vom 11. Juli 2021 weiterhin alles unternehmen, um »einen Volksaufstand in Kuba anzuzetteln«. Ihre imperiale Logik setze auf Entfremdung und die Verlockung, dass »eine schöne und zufriedene Mittelschicht« ein »exklusives Terrain für Gewinner« anstrebe, »die dann von denen bedient werden, die vom System ausgeschlossen sind«, sagte der Staatschef auf der Feier zum Nationalfeiertag am 26. Juli.
Hintergrund: Krise und Anstrengung
Die kubanische Wirtscha befinde sich »in einem komplexen Szenario, in dem es äußerst schwierig ist, die Deviseneinnahmen zu erzielen, die das Land braucht«, beschrieb Präsident Miguel Díaz-Canel am 22. Juli im Parlament eines der Hauptprobleme des Landes. Zwar sei es gelungen, die Situation in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres mit Deviseneinnahmen im Wert von rund 2,5 Milliarden US-Dollar gegenüber den Tiefstständen der beiden Vorjahre zu verbessern, doch sei das Niveau von 2019 immer noch nicht wieder erreicht, erklärte Wirtschaftsminister Alejandro Gil Fernández.
Da Nahrungsmittel, Ersatzteile, Treibstoffe und andere Waren zu einem großen Teil bei steigenden Weltmarktpreisen für Devisen importiert werden, bleiben Lebenshaltungskosten und Inflation in Kuba auf Rekordhöhen. Obwohl das monatliche Durchschnittseinkommen in staatlichen Unternehmen und Einrichtungen auf knapp 4.200 Kubanische Peso (ca. 168 Euro) gestiegen ist, reicht das Geld nicht für den täglichen Bedarf. Hohe Treibstoffpreise und fehlende Ersatzteile für veraltete Kraftwerke zwingen zu Stromabschaltungen. Díaz-Canel nannte es legitim, dass »einige Leute« zur »Toque de cazuela« (auf Kochtöpfe schlagen) gehen, um ihr Unbehagen auszudrücken. »Doch niemand verursacht Stromausfälle, um irgend jemanden zu stören«, versicherte er. Der Staatschef bat unzufriedene Bürger, nicht »denjenigen in die Hände zu spielen, die uns blockieren und verhindern, dass wir die nötigen Mittel erwerben, um aus dieser Lage herauszukommen«. Da der Imperialismus »seine rücksichtslosen Maßnahmen gegen Kuba nicht aufgeben wird«, müsse die Lösung der wirtschaftlichen Probleme »mit eigener Kreativität gefunden werden und aus eigener Anstrengung erfolgen«, sagte Díaz-Canel. Dies sei eine Herausforderung, »der wir uns stellen müssen, um unser Sozialmodell erhalten zu können«.
05.08.2022: Auswandern aus Kuba (Tageszeitung junge Welt) https://www.jungewelt.de/artikel/print.php?id=431906